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Marco Sturm fand seine Zukunft in der Zwischenzeit – in jener Phase, in der seine Spielerkarriere beendet war, er aber noch keinen Blick nach vorn geworfen hatte. Nach seiner letzten Saison 2012/13 kehrte er zu seiner Familie nach Florida zurück, tauchte wieder ins normale Vaterleben ein und begann, das Eishockeyteam seines Sohnes zu trainieren, bevor dieser auf die Highschool wechselte.

„Es hat irgendwie Klick gemacht“

In dieser Zeit, ohne dass er es erwartete, entdeckte er seinen neuen Weg.

Er coachte gemeinsam mit zwei ehemaligen Spielern der Florida Panthers, Tomas Vokoun und Radek Dvorak – alle drei zugleich überqualifiziert und unterqualifiziert, um das Jugendteam zu leiten. Er erinnert sich gut daran, was sie damals sagten:

„Die Jungs meinten: ‚Wow, du bist ja ein Coach‘“, erzählte Sturm vergangene Woche im Gespräch mit NHL.com. „Und ich habe es auch gespürt. Ich hatte einfach Spaß. Ich weiß nicht – wie ich auf dem Eis, aber auch daneben war … Von da an hat es irgendwie Klick gemacht.“

Plötzlich Bundestrainer

Er nahm Kontakt zur deutschen Nationalmannschaft auf, ohne davon auszugehen, dass man ihm etwas schenken würde, und ohne zu glauben, dass er schon bereit war. Er wollte einfach dabei sein.

„Plötzlich haben sie mir dann den Job als Cheftrainer angeboten – das hat mich total überrascht“, sagte Sturm. „Aber da ich schon ein bisschen Erfahrung mit dem Highschool-Team und dem Coaching hatte, habe ich nicht gezögert. Ich sagte: ‚Ich mach’s.‘ Denn ich wusste, dass ich gut darin sein werde. Ich war sofort überzeugt, dass ich es kann.“

Dieses Selbstvertrauen, diese innere Gewissheit über seine Fähigkeiten, durchzieht Sturms Worte. Er wusste es. Er wusste es. Er wusste, dass er einmal Cheftrainer in der NHL sein würde. Und so machte er sich mit klarer Zielstrebigkeit auf den Weg – ohne Plan B.

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Sturm ist ein „zielorientierter Mensch“

„Als er entschieden hat, Trainer zu werden, hat er sich voll hineingeworfen“, sagte Geoff Ward, der Sturm bei den Boston Bruins coachte und später als sein Assistenztrainer beim deutschen Nationalteam tätig war.

„Er ist ein sehr zielorientierter Mensch, und das war ganz klar eines seiner Ziele. Er sprach oft darüber, und man merkte, dass er es wirklich wollte. Er hat seinen Weg abgesteckt und ist ihn gegangen – und jetzt ist er hier.“

Sturm verbrachte sieben Jahre in Los Angeles – als Assistenztrainer der Kings und später als Chefcoach des AHL-Teams Ontario Reign. Sieben Jahre ohne seine Familie, während seine Kinder die Mittel- und Oberstufe durchliefen. Sieben Jahre voller kleiner und großer Schritte auf dem Weg zu dem Trainer, von dem er wusste, dass er ihn in sich trug.

Der 30. Cheftrainer der Boston Bruins

Dieses Ziel erreichte er am 5. Juni, als die Boston Bruins ihn zu ihrem 30. Cheftrainer in der Vereinsgeschichte machten – Nachfolger in einer Zeit des Umbruchs, für ein Team, das nach großer Vergangenheit und jüngsten Erfolgen auf der Suche nach einer neuen Identität ist.

Diese neue Ära beginnt am Mittwoch: Dann wird Sturm, der 938 NHL-Spiele über 14 Saisons bestritten hat, erstmals hinter der Bande stehen – gegen die Washington Capitals in der Capital One Arena (7:30 ET, Do. 1:30 Uhr MESZ).

Es werde ein emotionaler Moment, sagte er am Dienstag. Aber einer, auf den er sich vorbereitet fühlt – mit einer ruhigen, unerschütterlichen Gewissheit in sich selbst.

Er will „derselbe Marco Sturm bleiben, der ich immer war“

„Ich bin überzeugt, dass ich mein Bestes geben werde und derselbe Marco Sturm bleibe, der ich immer war“, sagte er zu Beginn des Trainingslagers. „Am Ende des Tages will ich mich verbessern, meine Spieler besser machen – und gewinnen.“

Trainer zu werden, war nichts, worüber Sturm früher jemals nachgedacht hatte – und auch keiner seiner früheren Coaches oder Mitspieler hielt es für seine Bestimmung. Niemand hatte das kommen sehe – oder zumindest fast niemand.

„Ich glaube nicht“, sagte Ex-Bruins-Coach Claude Julien.

„Ich stimme Claude zu. Ich weiß nicht, wann er entschieden hat, Trainer zu werden – wir haben nie darüber gesprochen“, ergänzte Ward.

„Nein, keine Ahnung“, sagte Ex-Teamkollege Dennis Seidenberg.

„Ehrlich gesagt, ich hätte nie gedacht, dass er mal Coach wird“, meinte Nate Thompson, ebenfalls ehemaliger Mitspieler.

Als Sturm mit diesen Aussagen konfrontiert wurde, nickte er. Er dachte früher auch nicht daran.

Marco Sturm 6-11

Bereits als Spieler war Sturm „ein Anführer“

Doch es gab einen, der das Potenzial sah. Sturm erinnert sich an ein Gespräch mit seinem früheren Boston-Kollegen Shawn Thornton in Florida. Ein Bekannter meinte damals, er könne sich Sturm nicht als Cheftrainer vorstellen.

Thornton widersprach.

„Er sagte: ‚Aber natürlich ist er das‘“, erzählte Sturm. „Also fragte ich: Wieso? Und er meinte: ‚Dir ist gar nicht bewusst, was für ein Anführer du als Spieler warst.‘ Ich war nie laut, aber er sagte: ‚Wir haben alle zu dir aufgeschaut.‘“

Für Sturm war das einfach natürlich.

Thornton bestätigte die Szene per Textnachricht: „Ich sagte das, weil Marco schon immer ein reifer, ruhiger Leader war, der mit Menschen umgehen konnte, das Spiel verstand und null Ego hatte.“

2015/16 begann Sturm als Bundestrainer, ein Amt, für das er sich – nach eigenem Eingeständnis – noch nicht ganz bereit fühlte. Doch er zögerte nicht.

Silber bei den Olympischen Winterspielen 2018

Er blickte zurück auf Trainer wie Julien und Ward, erinnerte sich an Methoden und Übungen aus seiner NHL-Zeit. Er entwickelte sein eigenes System, holte erfahrene Stimmen wie Ward an seine Seite – und führte Deutschland zu Silber bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang, der ersten Eishockeymedaille seit 1976.

Auf diesem Weg sorgte Sturm stetig für seine eigene Weiterentwicklung.

„Ich sah andere Trainer – richtig gute Trainer –, die zum Beispiel bei Bayern München hospitierten, für ein paar Wochen oder einen Monat, und die durften das immer. Das fand ich spannend“, sagte Sturm.

„Ich glaube, ich bin ein goal-getter. So hat man mich mal genannt, und das passt. Wenn ich etwas im Kopf habe, ziehe ich es durch – mit allem, was ich habe.“

Sturm hatte als Trainer früh die NHL im Kopf

Er fuhr auf eigene Kosten zum Draft, um Leute zu treffen und Gespräche zu führen. Er blieb in Kontakt mit Bill Guerin (damals Pittsburgh), John Hynes und Ward (bei den New Jersey Devils). Er fragte, ob er dazulernen, zuhören, hospitieren dürfe, um sich vorzubereiten. 2018 nahm er als Gasttrainer am Entwicklungscamp der Penguins teil.

Es ging nicht darum, Taktiken zu lernen – die kannte er. Es ging darum, Trainer zu beobachten: ihren Umgang mit Spielern, ihre Sitzungen, ihre Ansprache. Er war, wie Ward sagte, „ein Schwamm“. Soll heißen: Er saugte alles auf!

„Ich hatte die NHL schon im Kopf“, erklärte Sturm. „Ich will in diese Liga. Ich will schnell lernen. Ich habe keine Angst vor harter Arbeit, Drecksarbeit, den Weg über die AHL. Das war für mich kein Problem.

Aber wenn ich etwas will, dann will ich es wirklich erreichen.“

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Karriereweg über die AHL

Er schloss sich Todd McLellans Team bei den Los Angeles Kings an, lernte an dessen Seite als NHL-Assistenztrainer. Doch um Cheftrainer zu werden, musste er selbst Cheftrainer sein.

„Mein Selbstvertrauen ist stetig gewachsen“, sagte Sturm. „Und deshalb habe ich den Schritt in die AHL gemacht. Mein einziges Ziel war: Head Coach werden. Ich wollte nicht Assistent bleiben. Dann gehe ich lieber zurück nach Deutschland, zur Nationalmannschaft, oder nach Europa. Aber ich tue alles, um in der NHL Head Coach zu werden.“

Also ging er erstmals in seiner Karriere in die Minor League, zur AHL.

In seiner zweiten Saison als Head Coach der Ontario Reign, 2023/24, sprach Sturm mit Nate Thompson, einst Mitspieler, später Spieler unter ihm, nun Kollege im Trainerstab. Sturm hatte – so Thompson – „ein großer Einfluss auf meine Karriere und auf mich als Mensch“.

Sturm war „ein bisschen zu sehr Todd McLellan“

In dem Gespräch wollte Sturm nur herausfinden, wie er Thompson beim Einstieg ins Coaching unterstützen könne.

„Wir redeten über alles, und er fragte: ‚Was brauchst du von mir?‘“, erinnerte sich Thompson. „Und ich sagte einfach: ‚Marco, sei mehr du selbst.‘“

Dieser Moment wurde für Sturm zum Wendepunkt. Er hatte Todd McLellan sehr bewundert – vielleicht so sehr, dass zu viel von dessen Stil in seine eigene Arbeit eingeflossen war.

„Das ist kein Vorwurf – Todd ist ein großartiger Coach –, aber damals war Marco ein bisschen zu sehr Todd“, sagte Thompson. „Ich sagte ihm: Sei einfach du selbst. Er war ja kein schlechter Trainer, aber ihm fehlte sein eigener Dreh, sein eigener Funken.“

Sturm nahm den Rat an

„Früher habe ich versucht, Todd zu kopieren“, erzählte er später. „Doch meine Trainerkollegen halfen mir, wieder ich selbst zu sein. Thompson meinte: ‚Du bist brillant, sei du selbst.‘ Natürlich habe ich von diesen Leuten viel gelernt, aber am Ende musst du du selbst bleiben.“

Die Spieler bemerkten die Veränderung. Sie sahen, wie Sturm den Spaß und die Leidenschaft zurückfand – den Mix aus Humor und harter Arbeit, den er schon als Spieler verkörpert hatte, als Teil der Bruins-Kultur neben Größen wie Zdeno Chara und Patrice Bergeron.

Darum nannte ihn Reign-Assistenztrainer Chris Hajt „beloved“, und Ward sagte, seine Spieler würden „für ihn durchs Feuer gehen“. Sturm vereinte Arbeitsethos mit Leichtigkeit, zeigte Fürsorge, Kommunikation und positive Energie.

„Ich glaube, Marco hat sich als Coach charakterlich nicht verändert“, so Ward. „Das ist gut. Er weiß, dass Spieler merken, wenn du dich verstellst. Marco ist als Trainer aus dem Spieler hervorgegangen, der er war.“

Sturm strahlt Selbstvertrauen aus – in sich selbst, in das, was er aufgebaut hat, und in das, was er mit den Bruins vorhat. Seine Weggefährten sind überzeugt, dass er Erfolg haben wird.

Doch leicht wird es nicht. Seine Aufgabe mit den Bruins liegt zunächst weniger im Gewinnen als im Entwickeln.

Großes Lob von General Manager Don Sweeney

General Manager Don Sweeney lobte, wie Sturm das Trainingscamp geführt hat: strukturierter, konzentrierter als im Jahr zuvor unter Jim Montgomery.

„Seine Stimme war im gesamten Camp präsent, und das ist wichtig: Die Spieler wissen, dass er das Zepter in der Hand hat“, sagte Sweeney. „Er wird denselben Standard an sich und an jeden Einzelnen anlegen. Er will Erfolg – und fordert ihn ein.“

Dieser Anspruch kommt aus seiner Erfahrung, seiner Leidenschaft, seinem Vertrauen in seine Spieler – und seinem Wissen, wann man es locker angehen oder „den Hammer fallen lassen“ muss, wie Thompson erklärte.

„Marco hat lange in der NHL gespielt, er hat alles gesehen“, sagte Thompson. „Er war Vierter-Reihe-Spieler und Topliner, war verletzt, war Star. Er kennt jede Perspektive. Und er war Assistenz- wie Cheftrainer, in der AHL und bei der Nationalmannschaft. Für einen Spieler ist so ein Coach Gold wert.“

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Bruins sollten unter Sturm hart und physisch spielen

Am Dienstag, beim letzten Training vor seinem NHL-Debüt, ertönte Sturms Stimme laut durch die leere TD Garden Arena – präzise, konzentriert, bestimmt.

Er soll sein Team dazu bringen, hart und physisch zu spielen – und Erwartungen zu übertreffen, die nach den vielen Abgängen im letzten Jahr gesunken sind.

Nie hätte Sturm gedacht, einmal in dieser Rolle zu stehen.

Aber jetzt ist er hier – in einem Job, den er, sobald er ihn wollte, mit unerschütterlicher Zielstrebigkeit verfolgte.

Früher glaubte kaum jemand daran. Doch jetzt tun sie es.

„Ich war total beeindruckt, was er in Ontario geleistet hat und wie er viele der heutigen Kings-Spieler dort entwickelt hat“, sagte Thompson. „Ich glaube, in der NHL sind ihm als Trainer keine Grenzen gesetzt.“

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