Jeder Punkt zählt. Die absolute Wahrheit dieser uralten Sportweisheit erfahren in diesen Tagen die NHL-Teams, vor allem in der Eastern Conference. Dort entwickelt sich ein enges Rennen um die Teilnahme an den Stanley Cup Playoffs. Mittendrin: die Ottawa Senators mit dem Deutschen Tim Stützle und die Boston Bruins. Das jüngste Aufeinandertreffen der beiden Teams im Canadian Tire Centre in der kanadischen Hauptstadt ging mit 6:5 nach Penaltyschießen an die Gastgeber. Es war ein Spiel, das schon mal einen Vorgeschmack auf die heiße Phase des Eishockeyjahres gab.

„Es war ein sehr emotionales Spiel auf vielen verschiedenen Ebenen. Es waren viele emotionale Aufs und Abs dabei. Am Ende war es ein Sieg des Charakters“, meinte Travis Green. Der Coach der Ottawa Senators hatte auf der Bank einen der besten Plätze im Stadion, um das Spektakel zwischen seinem Team und den Bruins mitzuerleben. Dabei schickte seine Mannschaft die Fans in der heimischen Arena auf die schon so oft zitierte Gefühlsachterbahn. Erst früh 2:0 vorne, dann 2:3 zurück, Ausgleich zum 3:3, 3:5 zurück, Ausgleich kurz vor Schluss und dann der Sieg im Shootout. Und der Ex-Mannheimer Stützle mittendrin im Geschehen.

Green: Playoffintensität auf beiden Seiten

Kein Wunder also, dass der Übungsleiter der Gastgeber bei solch einem Spielverlauf davon sprach, dass die Partie schon Playoffintensität gehabt habe - „Auf beiden Seiten.“ Sein Team habe nach der frühen Führung die Deckung etwas fallen lassen, bemühte Green ein Bild aus dem Boxsport. Adam Gaudette sorgte bereits nach 107 Sekunden zum ersten Mal für Jubel auf den Rängen im Canadian Tire Centre. Und als Stützle knapp sechs Minuten später auf 2:0 erhöhte, schien die Partie aus Sicht der Gastgeber in die richtige Richtung zu laufen. Sowohl für Gaudette als auch für Stützle war es jeweils der 15. Saisontreffer, womit beide gleichauf an dritter Stelle in der teaminternen Torschützenliste stehen.

Doch auch die Bruins brauchen jeden Zähler. Und so kämpfte sich die Mannschaft um Superstar David Pastrnak zurück. Bis zur ersten Pause hatten Pavel Zacha und Pastrnak ausgeglichen. Im Mittelabschnitt gelang den Gästen durch Morgan Geekies 2:3 nach 66 Sekunden ein Blitzstart. Nach Josh Norris‘ Ausgleich (26.) kippte die Partie zugunsten der Gäste. John Beecher (35.) und Vinni Lettieri mit seinem ersten Saisontor (52.) ließen die Bruins lange von zwei Punkten träumen. Am Ende wurde es nur ein Zähler, weil die Gastgeber großartige Moral bewiesen und in einer furiosen Schlussphase durch Nick Jensen und Josh Norris noch zum Ausgleich kamen. „Es hat Spaß gemacht. Die Zuschauer waren großartig. Das Momentum ging ein paar Mal verrückt hin und her“, befand Norris. Eine Rangliste seiner eigenen Tore habe er nicht. Aber sein Ausgleich zwölf Sekunden vor Schluss sei definitiv eins der aufregendsten gewesen. „Es war ein sehr aufregendes Spiel, für uns und für die Bruins, mit viel Adrenalin.“

Stützle sichert Zusatzpunkt

Beim 4:5 hatte Green Keeper Leevi Merilainen (23 Saves) schon längst vom Eis geholt und durch einen sechsten Feldspieler ersetzt. „Es ist schwierig, das zusammenzufassen. Das war wahrscheinlich eines der großartigsten Comebacks, von dem ich ein Teil sein durfte“, meinte der Finne nach der Partie. „Das war ein verrücktes Spiel mit vielen Emotionen. Es hat sich angefühlt wie ein Playoffspiel“, konstatierte der Keeper, für den es im neunten Einsatz in dieser Saison der sechste Sieg war. Die Mannschaft sei nach dem 3:5 drangeblieben. „Wir haben so viel Talent in der Mannschaft, dass man darauf vertrauen konnte, dass wir zurückkommen.“ Es war erst das dritte Mal in der Franchisehistorie der Senators, dass das Team in den letzten fünf Minuten der regulären Spielzeit einen Zwei-Tore-Rückstand noch in einen Sieg verwandelt hat. Am 13. Februar 2023 war ihnen das gegen Calgary gelungen und am 5. November 1993 in Winnipeg.

BOS@OTT: Stützle erzielt das 2:0 im ersten Drittel

Der junge Finne hatte daran großen Anteil. Und er kam in seinem elften NHL-Spiel zu seinem ersten Penaltyschießen. In dem er sich großartig schlug. Groß Gedanken habe er sich deswegen aber nicht gemacht. Merilainen entschärfte alle drei Versuche der Bruins von Charlie Coyle, Pastrnak und Zacha. „Er macht einen ruhigen Eindruck. Es sieht nicht so aus, als ob irgendeine Situation für ihn zu groß wäre“, lobte Green seinen Torwart. Auf der anderen Seite ließ Stützle Bruins-Keeper Jeremy Swayman mit einem schönen Move aussteigen, traf als einziger Schütze und sicherte den Senators so den Zusatzpunkt. Stützle hatte schon den ersten Treffer von Norris mit vorbereitet. Damit kommt der Viersener jetzt auf 72 Spiele mit zwei oder mehr Scorerpunkten, womit er an Wade Redden vorbeigezogen ist und nun in dieser Statistik in der Geschichte der Senators auf Platz zehn liegt.

Enges Rennen um Playoffplätze

Wie wichtig dieser Punkt am Ende ist? Das ist jetzt selbstverständlich noch nicht zu sagen. Aber für den Moment sorgt er dafür, dass die Senators in der Eastern Conference mit 50 Punkten auf dem zweiten Wild Card Platz stehen. Punktgleich zwar, aber vor den Bruins. Und nur einen Zähler hinter den Columbus Blues Jackets auf Wild Card Platz eins. Auch in der Atlantic Division ist das letzte Wort noch längst nicht gesprochen. Tampa Bay auf Platz drei ist nur drei Punkte entfernt, Florida auf Platz zwei nur sieben, und auch Spitzenreiter Toronto ist mit 60 Zählern noch nicht komplett enteilt. Doch von hinten droht noch Gefahr: Die wieder erstarkten Detroit Red Wings auf Platz sieben sind nur vier Zähler hinter den Senators.

Die Zeit scheint reif für die Senators, endlich den nächsten Schritt zu machen und auch in der K.o.-Phase für Furore zu sorgen. „Ich habe noch nie in einem Playoffspiel gespielt. Aber von der Intensität her hat es die Partie heute glaube ich ziemlich gut simuliert“, meinte Senators-Kapitän Brady Tkachuk. „Wir hatten schon einige Male eine super Atmosphäre in der Halle. Aber diesmal hat es sich noch anders angefühlt. Wie eine Vorschau auf das, was noch auf uns zukommt.“

„Jedes Mal, wenn man ein Spiel gewinnt, baut man Selbstvertrauen auf“, bekräftigte Green. „Aber diese Art von Spielen helfen für die Zukunft.“ Ob davon schon am Sonntag etwas zu sehen ist? Dann starten die Senators einen Road Trip über drei Spiele, in denen sie auf die New Jersey Devils, die New York Rangers und wieder die Bruins treffen.

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